…die bereits ausführlich diskutierte sportliche Krise beim 1. FC Union Berlin hat nach meinem Dafürhalten tiefere Ursachen, die über sportliche Aspekte hinausgehen. Neben defensiven Schwächen, mangelnder Chancenverwertung und Problemen bei der Integration der Neuzugänge gibt es auch strukturelle und kulturelle Entwicklungen im Verein, die kritisch hinterfragt werden müssen.
1. Verlust der Bodenhaftung und Abkehr vom bewährten Vereinsweg
Die überraschende Teilnahme an der Champions League war zweifelsfrei ein sportlicher Meilenstein, hat aber offenbar zu einer gewissen Selbstüberschätzung bei den Vereinsverantwortlichen geführt. Der über Jahre verfolgte, bodenständige Weg, der den Verein aus der 2. Liga bis in die europäische Elite geführt hatte, wurde verlassen. Union war lange geprägt durch Demut, Realismus, einem klaren Bewusstsein für die eigenen Wurzeln, einem bewussten Umgang mit den eigenen Ressourcen und dem Fokus auf nachhaltige Entwicklung. Dies spiegelte sich in klugen Transferentscheidungen, der Bescheidenheit der Vereinsführung und der Identifikation mit der Fanbasis wider.
Doch der Wunsch, "im Konzert der Großen" mitzuspielen, hat den Verein offenbar in eine Identitätskrise gestürzt. Transfers von internationalen Stars wie Leonardo Bonucci und Robin Gosens, die in ihrer Karriere bereits viel erreicht hatten, stehen symbolisch für diese Veränderung. Während sportlicher Erfolg natürlich das Ziel eines jeden Vereins ist, scheint Union den Balanceakt zwischen Wachstum und seinen traditionellen Werten nicht mehr zu meistern.
Diese Abkehr vom traditionellen Union-Weg gefährdet die langfristige Stabilität des Vereins, da sie sportlich und finanziell riskante Entscheidungen begünstigt.
2. Stadionausbau - Verzögerungen und unklare Kommunikation
Seit Jahren gibt es seitens des Präsidenten Dirk Zingler Versprechungen über den Stadionausbau der Alten Försterei. Ursprünglich geplante und ambitionierte Ausbauziele wurden mehrfach verschoben. Stattdessen werden den Mitgliedern immer wieder neue und größere Entwürfe präsentiert, was in Teilen der Anhängerschaft den Eindruck erweckt, sie würden hingehalten oder mit Visionen beruhigt, während der Verein auf sportlicher Ebene größere Risiken eingeht.
Hier entsteht der Eindruck, dass der Stadionausbau als Prestigeprojekt genutzt wird, während konkrete Fortschritte ausbleiben. Dies schürt Misstrauen in die Verlässlichkeit der Vereinsführung und ihre Fähigkeit, Projekte wie den Stadionausbau effizient und termingerecht umzusetzen.
3. Finanzpolitik - Aktienemission und fehlende Transparenz
Seit Längerem schon werden intransparente Informationen bzgl. Finanzthemen von leider nur wenigen Unionern kritisch begleitet. Gerade bei Finanzthemen ist eine offene Kommunikation essenziell, um das Vertrauen der Mitglieder und Fans zu erhalten. Die Unklarheiten führen zu Misstrauen, insbesondere da ähnliche finanzielle Maßnahmen in anderen Vereinen oft zu einem Verlust an Einfluss der Mitglieder führten.
Die geplante Aktienemission, die auf den ersten Blick wie eine vielversprechende Maßnahme zur Kapitalbeschaffung wirkt, wirft ebenfalls Fragen auf. Es fehlt an Transparenz über die genauen Ziele und die konkrete Mittelverwendung. Kritische Stimmen, die auch bei diesem Vorgang eine genaue Aufschlüsselung fordern, werden teilweise ignoriert. Gleichzeitig gibt es einen Teil der Union-Gemeinschaft, der der Vereinsführung nahezu blind vertraut und jegliche Kritik mit übermäßiger Loyalität zum Präsidenten zurückweist. Dies führt zu einer Spaltung zwischen unkritischer Zustimmung und berechtigter Skepsis.
Dieser unkritische Umgang erschwert eine offene und ehrliche Diskussion über die langfristigen Auswirkungen der Aktienemission.
4. Intransparente Kommunikationspolitik
Ein grundlegendes Problem der aktuellen Krise ist die intransparente und oft widersprüchliche Kommunikationspolitik des Vereins. Statt offener, klarer Aussagen dominieren seit Längerem unklare und rudimentäre Informationen. Das ist umso irritierender, da Präsident Zingler bei seinem Amtsantritt gerade Transparenz als wichtigen Wert hervorhob. Die Folge sind zwangsläufig berechtigte Spekulationen und Misstrauen. Besonders auffällig ist die Tendenz, sich in kritischen Momenten bewusst vage auszudrücken, um unangenehme Debatten zu vermeiden.
Diese "weichgespülte" Rhetorik steht im Kontrast zum Image des klaren, authentischen Arbeitervereins, das Union lange gepflegt hat.
Positionen, die früher als unumstößlich galten, werden je nach Situation revidiert. Als aktuelles Beispiel sind Äußerungen zum Feuerzeugwurfurteil, obwohl sich in der Vergangenheit mit Verweis auf ein schwebendes Verfahren nicht zu dem jeweiligen Thema geäußert wurde.
Ein weiteres Beispiel ist die Kommunikation rund um die letzten Trainerwechsel. Während offiziell immer wieder Kontinuität betont wurde, folgte letztlich die Entlassung von Urs Fischer - einer Vereinsikone - sowie Bo Andersen unter dem Druck der sportlichen Misere. Die Darstellung dieser Entscheidungen wirkten inkonsistent und wenig überzeugend in Bezug auf frühere Standpunkte.
5. Wankende Prinzipientreue und inkonsequente Standpunkte
Union Berlin war über Jahre bekannt für seine klaren Werte und Prinzipien, die in der Fanszene stark verwurzelt waren. Doch zuletzt scheinen einige dieser Grundsätze situativ angepasst bzw. populistisch verändert oder gar über Bord geworfen worden zu sein. Prinzipien und Standpunkte, die als „in Stein gemeißelt“ galten, werden je nach Druck oder aktueller Thematik flexibel angepasst. Diese inkonsistente Linie wird von vielen Fans als opportunistisch wahrgenommen und widerspricht den traditionellen Werten von Union Berlin. Die Glaubwürdigkeit des Vereins leidet darunter erheblich.
Beispielhaft sind hier Entscheidungen im Bereich Sponsoring oder Transferpolitik zu nennen, bei denen frühere Standpunkte aufgeweicht wurden. Dies wirkt auf Teile der Fans wie Opportunismus, was Unruhe in der Vereinsbasis erzeugt. Auch das Herauszögern der Präsentation eines zum 01.01.2025 angekündigte neuen Trikotsponsors führt zu vielen Fragenzeichen.
6. Ultras und Fankultur - Machtbalance auf den Rängen
Auf den Rängen hat sich eine problematische Dynamik entwickelt, die ebenfalls kritische gesehen werden muss. Der Support war einst durch Vielfalt bzw. Spontanität geprägt und passte sich der Spielsituation an, um die Mannschaft gerade in schwierigen Phasen zu stärken.
Die Ultras, die traditionell eine tragende Rolle im Support der Mannschaft spielten, haben durch den alleinigen Zugriff auf Megaphone eine dominante Stellung erlangt. Kritiker bemängeln, dass Ihr Support zunehmend folkloristisch geprägt ist, teilweise sogar selbstbezogen, was den Eindruck erweckt, es gehe mehr um Selbstinszenierung als um bedingungslosen Support der Mannschaft. Dies führt zu Spannungen innerhalb der Anhängerschaft, die sich nicht mehr ausreichend repräsentiert bzw. sogar an den Rand gedrängt fühlt.
7. Verantwortung der Vereinsführung und dringend notwendige Selbstreflexion
Noch befindet sich Union nicht in einer vollständigen Führungskrise. Der 1. FC Union Berlin steht aber an einem Scheideweg. Die aktuellen Entwicklungen erzeugen eine zunehmende Skepsis gegenüber der Vereinsführung. Der Verein hat durch den rasanten sportlichen Aufstieg und die Teilnahme an der Champions League enorm an Ansehen gewonnen, aber gleichzeitig zentrale Werte und Prinzipien aufs Spiel gesetzt.
Der oft zitierte Spruch "Der Fisch fängt am Kopf an zu stinken" drängt sich in diesem Kontext auf, auch wenn die Situation noch nicht völlig eskaliert ist. Dennoch ist ein "komischer Geruch" in der Alten Försterei wahrnehmbar, der das Vertrauen in die Führungsebene zunehmend auf eine harte Probe stellt.
Wenn die Vereinsführung nicht bereit ist, ihre jüngsten Entscheidungen und Fehleinschätzungen selbstkritisch zu analysieren und notwendige Kurskorrekturen vorzunehmen, könnte die aktuelle Krise den langfristigen Erfolg und die Identität des Vereins gefährden. Das offene Eingestehen von Fehlern kann die handelnden Personen durchaus stärken und glaubwürdiger machen.
Die Zeit für ehrliche Reflexion und Transparenz ist jetzt gekommen - bevor es für eine nachhaltige Wende zu spät ist.