Fußball beim 1.FC Union Berlin, das ist ja immer schon so eine Sache für sich. Nun, da der nächste Gegner 1860 München lautet, gilt das wohl auf ganz besondere Weise. Ist es noch recht schwer, in einem Wort zu beschreiben, was den 1.FC Union mit Fußball verbindet, und gehen die Meinungen darüber vermutlich auch weit auseinander, liegt das Motto dieser Woche direkt zu meinen Füßen: Schizophrenie.
Werfen wir zur näheren Betrachtung einen Blick ins Löwenforum. (Nein nein! Das ist keine Arena des Altertums, obwohl: Sowohl "Arena" als auch "Altertum" beschreiben Dinge, die die Fans von 1860 stark umtreiben. Aber egal.)
Jedenfalls wurde dort nach einer Serie von 8 Spielen, in denen die Gegner zwar bloß 10 Treffer zustande brachten, was aber dennoch ausreichte, gleich doppelt so erfolgreich zu sein wie die 60er, der Abstiegskampf ausgerufen. Jetzt, mitten in der Saison. Die Prognosen zum Spiel sind entsprechend düster. Ich habe nicht einen Tipp entdeckt, der davon ausgeht, aus der Alten Försterei wenigstens ein Pünktchen zu entführen.
Beim 1.FC Wundervoll sieht die Lage naturgemäß anders aus. Die völlig überraschend gewonnene Auswärtsstärke der letzten Wochen hat dazu geführt, dass die Saison mental bereits an den Nagel gehängt wurde. Die Fans machen sich ihre Gedanken, wie man die Zeit bis zum September nun sinnvoll gestalten könnte: sich aufs Torverhältnis konzentrieren, vielleicht noch Frankfurt und Aue und Cottbus einholen (also DDR-Meister werden! ), Osnabrück die Daumen drücken, Augsburg sowieso, sogar Bochum. Man könnte vielleicht auch wieder den einen oder anderen älteren Spieler rausschmeißen und sich schon mal für 2011/12 einspielen. Jedenfalls scheint das Wort Blindpese wie verschollen zu sein, man findet es nicht mehr.
Das ist prima, dachte ich mir! 1860 und wir liegen ja in der Tabelle nicht so weit voneinander entfernt, da ließe sich doch wunderbar mal ein statistisch-wissenschaftlicher Ort ermitteln, der Abstiegskampf von Mittelfeldgeplänkel trennt. Diese Linie musste ja nun irgendwo zwischen diesen Vereinen verlaufen und ihre Spuren hinterlassen wie ein Mauerstreifen in einem in reich und arm geteilten Land. So jedenfalls meine Theorie.
Und da Unioner, die ihren Verein realistisch einzuschätzen wissen, in diesen Tagen eh gerne einen Blick auf die Tabelle werfen, freute ich mich auf die Erforschung eines an sich ja eher trockenen empirischen Wertes. Dieses angenehm den Körper durchfließende Gefühl war aber nur von kurzer Dauer.
Denn wo ich auch guckte, die Tabelle war fehlerhaft! Sehr wohl entdeckte ich diese Demarkationslinie. Allerdings – falsch herum! Unser Mittelfeld befindet sich tatsächlich unter dem Abstiegskampf der Münchner. Um mir eine Erklärung dieses verwirrenden Faktes zu liefern, sage ich mir nun, dass der Abstiegskampf zwar irgendwo ab dem 10./11. Tabellenplatz beginnt, aber auf 12 eine kleine Pause einlegt und dem dortigen Klub eine Art Ruhekissen bietet, um sich von den Strapazen zu erholen, die ein ganzjähriger Abstiegskampf mit sich bringt. Oder anders ausgedrückt: Fußball ist doch mehr eine Sache des Kopfes und des Bauches als der Füße.
Angeschlagene Boxer sind bekanntlich am gefährlichsten, und 1860 mit seinen 5 Toren in 9 Spielen und ohne den Spieler Lauth, der für gefühlt 6 dieser 5 Tore verantwortlich zeichnete, lässt sich wohl unzweifelhaft als angeschlagen bezeichnen, also Obacht!
Ein oft benutzter Trick von gefährdeten, zum Beispiel übergewichtigen Boxern ist das Hungern vor dem Wettkampf, um sich kleiner zu geben als man ist. 1860 ist ohne Frage nicht nur angeschlagen, sondern auch übergewichtig! Der Verzehr von unangemessen vielen Brathendln erzeugte ein erhebliches Aufschwemmen des Körpers, der seither gezwungen ist, sich in einer viel zu großen Wohnung aufzuhalten, was nebenbei auch andere gesundheitliche Schäden nach sich zog, wie Fremdheit im eigenen Selbst, Isolation, Zerrissenheit. Das Charma ist nicht gut! Wir wissen, wohin das führen kann!
Jetzt hungert der Patient also, und präsentiert sich in jeder Runde erneuert: hier eine neue Faust aus der A-Jugend, da ein neuer Oberschenkel aus der B-Jugend, dort ein neuer Kopf (wir hatten uns ja auf Kopf- und nicht Fußsache geeinigt, außerdem spielt Fuß bei Viktoria in der Berlin-Liga) aus der C-Jugend. 1860 wird immer jünger und bewahrt sich so einen Schuss Unberechenbarkeit. (An dieser Stelle würde Uwe Neuhaus sagen: Wir wissen ja, dass das zu nichts führt!)
Der Essayist möchte an dieser Stelle nachdenklich einwerfen, dass die Giesinger womöglich anders dastünden, hätten sie ihre neuen Körperteile nicht oftmals sogleich wieder amputiert: Bender, Bender, Mlapa, Leitner, Schäfer, Gebhart, alles Elemente, die an ihren neuen Körpern nun zu einem eher international hoffähigen Niveau derselben beitragen.
Es ist das Los eines Jemand, der sich inmitten einer Nahrungskette befindet und nicht an ihrem Ende. Dem Löwen war es immer gut gegangen, die Position in einer Nahrungskette war ihm fremd, er jagte und genoss die königliche/unumstrittene Position in seinem Revier. Doch eines Tages vergrößerte sich die Welt, in der Politik nennt man das Globalisierung, im Fußball Kommerzialisierung, und ein bis dato unscheinbarer Nachbar nutzte einen kaiserlichen Zufall aus und übertölpelte den Löwen, der diese neue Welt bis dahin nur unwirsch angeblickt hatte und regungslos in seinem Revier verharrte. Nun wurde er zum Gejagten, denn sein unscheinbarer Nachbar, noch nicht einmal ein Löwe, sondern bloß mit extrem rötlicher Gesichtshaut ausgestattet, hatte Gewehre und war von nun an überlegen. Er fing den Löwen und sperrte ihn in einen Käfig. Da ihm eine gewisse Maßlosigkeit zu eigen war, wollte der Neue aber nicht nur Macht, sondern auch Anerkennung, vielleicht sogar Liebe?, und schickte seine Jünger übers Land, die neue Lehre zu verkünden.
Und eines Tages war eines der Kinder des Löwen so weit, dass es nur noch diese Lehre kannte und von dem alten Revier, dass nach der langen Zeit der Käfighaltung etwas liederlich vor seinen Augen lag, kaum noch Notiz nahm. Dieses neue Löwenkind war kräftig geworden, denn die neue Lehre gab ihm Mut, aber es war geblendet. Und wenn nicht nur die Augen geblendet werden, sondern auch das Gehirn, ist das gefährlich, denn das Gehirn erholt sich sehr viel weniger schnell als die Sehorgane.
Die Menschen in einem berühmten gallischen Dorf namens Köpenick hatten einen anderen Plan. Sie hatten diese neue Lehre auch gesehen, und wie sie sich über die Welt ausbreitete und auch an ihr Ufer heranspülte. Sie erkannten aber das Problem der Nahrungskette und stellten sich ein wenig außerhalb dieser. Sie wurden Vegetarier. Das bedeutete einen gewissen Einflussverlust, denn man befand sich nun in einer Minderheitenposition. Hoch hinaus zu kommen war damit ausgeschlossen. Aber niemand sperrte sie in einen Käfig oder fraß sie auf. Sie lebten und behielten ihr Revier, und als es ein wenig zu rosten begann, waren sie in der Lage, es mit schmalen, aber eigenen Mitteln ein wenig aufzupäppeln, um sich weiter darin wohl zu fühlen.