Liebe Tante Bertha,
es tut mir leid das wir uns schon eine Weile nicht gesehen haben. Früher haben wir uns immer Briefe geschrieben, die gerne mitgelesen wurden. Heute schreibe ich dir neumodisch eine email.
Wie gerne erinnere ich mich noch an früher wenn du es ermöglichen konntest uns zu besuchen. Du hast immer so schön nach Kölnisch Wasser gerochen, hattest irgendwie coole, helle, fröhliche Klamotten an und hast auch immer was tolles mitgebracht. Die Poster und Aufkleber fand ich als Spund immer duffte. Die Argentinischen Äpfel vom Aldi hättest du dir sparen können, mir wäre eine blau-weiße Fahne lieber gewesen.
Du hast mir dann oft erzählt wie ihr drüben leidet und das ihr euch eingemauert fühlt. Das konnte ich sehr gut verstehen. Du warst eine einfache, ehrliche Haut, hast manchmal über die Strenge geschlagen, der Lippenstift war vielleicht etwas zu viel aufgetragen, aber du hattest eine so herrlich schöne Kodderschnautze. Die machte dich sympatisch.
Oma hat auch manchmal berichtet, wenn sie dich besuchen durfte. Sie hat dann immer in schillernsten Farben ausgemalt, wie ihr euch auf eurer Insel das harte Leben schön macht. Das fand ich ermutigend in meiner kleinen grauen Welt und wir beide waren richtig dicke miteinander. Du und ich meine ich! Oma war auch lieb!
Als dann die Mauer ins Abseits geschoben wurde, was haben wir uns da gefreut. Zum ersten mal durfte ich dich auf deiner Insel besuchen und es flossen Freudentränen. Wir hofften auf viele schöne gemeinsam Zeiten.
Irgendwie haben wir uns dann aber doch aus den Augen verloren, jeder hatte genug mit sich zu kämpfen. Irgendwann hast du angefangen dir Lackschuhchen anzuziehen, der Rock wurde für dein Alter viel zu kurz. Später dann als wir uns 2010 so richtig wiedergesehen haben, war ich doch mächtig erschrocken. Die aufgespritzen Lippen, das verschnittene Gesicht, die blondierten Haare, all das fand ich ehrlich gesagt nuttig. Das passte auch gar nicht zu dir. Ich konnte ja verstehen, dass du glücklich sein wolltest und dein hartes Leben genießen mochtest, fand es aber eher abschreckend.
Im Jahr 2013 haben wir uns dann zuletzt getroffen und ich habe mich ernsthaft gefragt mit was für Typen du dich umgeben hast. Aus den Lackschuhchen wurden High-Heels. Der extra offene Knopf an deiner Bluse musste auch nicht sein. In deinem Alter müsste man eigentlich den Charakter deiner Lebenserfahrung charmant wiederfinden, aber alles was ich sah war irgendwie künstlich. Deine ganze Mimik, dein Gang, deine hoch gezogene Nase wirkte so weltfremd für mich.
Tja und nun sehen wir uns im Jahr 2019 wieder. Ehrlich, ich grause mich auch ein wenig davor. Was ich so sehe und höre, hast du dich noch mehr abhängig gemacht von windigen Möchtegerngrößen. Wie gerne hätte ich eine alte, runzlige, herrlich verrückte Bertha wieder, die man irgendwie knuddeln könnte, so wie früher wo alles schlecht aber meine Tante toll war. Die war ehrlich, ein wenig skurill, fiel öfters mal auf den Allerwertesten aber meisterte ihr Leben irgendwie. Heute meistern an dir nur noch Fremde herum und dein Stern der Gunst sinkt offenkundig. Du glitzerst zwar mit deinen Diamanten, aber bist eine graue Mickymaus geworden.
Ich freue mich trotz alledem dich wiederzusehen, sind wir doch beide aus der selben Stadt und ich wünsche dir alles Gute und hoffe eines Tages, wenn du in den Spiegel schaust wirst du deine Falten lieben und wieder das werden was du mal für mich mal warst – eine ehrliche Haut!
UNVEU
JensM